
Das Geheimnis des Seidenhändlers
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Das Geheimnis des Seidenhändlers
Mitten auf dem von Laternen erleuchteten Marktplatz, wo der Duft von gerösteten Kastanien und Jasmintee die Abendluft durchwehte, saß die Seidenhändlerin Rei hinter ihrem Stand und faltete elegant eine Rolle purpurroter Seide. Sie war eine Katze mit silbernem Fell, gelassen und mit scharfen Augen, ihr Kimono war mit zarten Kranichen bestickt, die zu tanzen schienen, wenn sie sich bewegte.
An diesem Abend lief es gut. Auf dem Marktplatz herrschte reges Treiben – Fischhändler boten ihren Tagesfang an, Händler feilschten um seltene Gewürze und Reisende suchten nach Schätzen, die sie mit nach Hause nehmen konnten. Doch Rei hatte schon immer gewusst, dass die wertvollsten Dinge diejenigen waren, die nicht offen zum Verkauf standen.
Als sich eine unbekannte Gestalt ihrem Stand näherte und ein Bündel Seide hinlegte, wie sie es noch nie gesehen hatte, zuckten Reis Schnurrhaare vor Neugier.
„Das ist exquisit“, murmelte sie und fuhr mit der Pfote über den Stoff. Er war unglaublich glatt und wechselte im Schein der Laterne seine Farbe – in einem Moment mitternachtsblau, im nächsten tiefviolett.
„Ein seltenes Gewebe“, sagte der Fremde mit leiser Stimme und den Augen unter der Krempe eines Reisehutes verborgen. „Einzigartig.“
Rei neigte den Kopf. Sie hatte die feinsten Seidenstoffe aus dem ganzen Reich gesehen, aber das hier – das war etwas ganz anderes. „Wo hast du es gefunden?“, fragte sie, doch als sie aufsah, war der Fremde bereits verschwunden und verschmolz mit der Menge wie ein Schatten in der Abenddämmerung.
Ein Rätsel. Und Rei liebte gute Rätsel.
Sie entrollte die Seide vollständig und dort, verborgen in den komplizierten Fäden, sah sie es – ein Muster, das fast unsichtbar war, wenn das Licht nicht genau richtig darauf fiel. Kein Muster, sondern eine Botschaft. Eine Warnung.
Sie kommen mit der Flut. Schließen Sie Ihre Türen ab.
Reis Fell kribbelte. Die Flut war heute Abend hoch. Sie wedelte mit dem Schwanz und blickte über den Marktplatz, aber nichts schien merkwürdig. Noch nicht.
Sie rollte die Seide rasch zusammen und verstaute sie unter ihrem Tresen. Was auch immer für Ärger im Anmarsch war, sie wollte es zuerst herausfinden. Denn auf diesem Markt waren Geheimnisse ebenso eine Währung wie Gold, und Rei war nie jemand, der unvorbereitet erwischt wurde.
Der Wind trug das ferne Geräusch von Glocken herüber. Irgendwo hinter den Ständen begann sich die Flut zu wenden. Und mit ihr kam etwas Unsichtbares in die Nacht.
Rei ging in dieser Nacht nicht nach Hause. Stattdessen folgte sie der Flut, glitt durch enge Gassen und über Dächer, bis sie die Docks erreichte. Das Meer schimmerte unter den Laternen, aber etwas stimmte nicht. Die Luft war zu still, die Wellen plätscherten zu sanft, als hielten sie den Atem an.
Ein Schiff lag vor Anker, seine Segel dunkel und regungslos. Keine Banner, keine Mannschaft in Sicht. Nur eine schwere Stille, die die Nacht erdrückte. Rei duckte sich, ihre Ohren zuckten und beobachtete. Dann sah sie sie – Gestalten, die sich am Hafen entlang bewegten, in Schatten gehüllt. Schmuggler? Diebe? Oder etwas Schlimmeres?
Sie hatte ihre Antwort schon bald. Eine der Gestalten drehte sich um und im flackernden Licht sah Rei ihre Augen – leer, nachdenklich, wie die einer Puppe. Nicht menschlich. Nicht katzenartig. Irgendetwas dazwischen.
Rei atmete langsam aus. Das war also das Problem, vor dem die Seide gewarnt hatte.
Leise bewegte sie sich zwischen Fässern und Kisten hindurch und blieb in der Dunkelheit. Sie hatte kein Interesse am Kämpfen – sie wollte nur verstehen. Wer waren sie? Was wollten sie? Und warum war die Warnung an sie gerichtet?
Eine der Gestalten bückte sich und entrollte ein Stück dieser schillernden Seide. Aus dieser Nähe konnte Rei nun erkennen, dass es nicht nur eine Nachricht war, sondern eine Karte. Und sie zeigte irgendwo tief in die Stadt.
Ihr Puls beschleunigte sich. Sie hatte die Wahl – sie konnte ihnen jetzt folgen oder zum Marktplatz zurückkehren und sich vorbereiten. So oder so, die Nacht hatte gerade erst begonnen.
Rei verließ die Docks, ihre Gedanken rasten. Die Stadt war riesig, aber sie kannte ihre Geheimnisse gut. Wenn diese Gestalten nach etwas suchten, würde sie es zuerst finden. Denn im Spiel von Seide und Schatten überlebten nur die Schnellen und die Schlauen.
Und Rei war beides.
Am nächsten Morgen kehrte Rei zu ihrem Stand zurück, als hätte sich nichts geändert. Auf dem Markt herrschte wie immer reges Treiben, der Duft von frischem Brot und brutzelnden Knödeln erfüllte die Luft. Doch unter dem gewöhnlichen Handelstreiben blieb eine unangenehme Spannung zurück.
Sie musste nicht lange warten.
Ein gut gekleideter Edelmann trat auf ihren Stand zu. Sein Gewand war mit Drachenwindungen bestickt. Seine goldenen Augen glitten über ihre Seide, bevor sie auf ihrem Gesicht ruhten.
„Sie sind der Händler namens Rei?“, fragte er mit sanfter, aber stählerner Stimme.
Rei begegnete seinem Blick mit einem geübten Lächeln. „Das kommt darauf an. Sind Sie hier, um etwas zu kaufen oder um Fragen zu stellen?“
Ein Anflug von Belustigung huschte über sein Gesicht. „Beides.“
Er legte eine Münze auf den Tisch – eine schwere, mit einem unbekannten Wappen versehen. „Ich suche einen bestimmten Stoff. Einen, der aus den Fäden des Unsichtbaren gewebt ist.“
Reis Pfoten blieben ruhig, doch innerlich schärften sich ihre Instinkte. Dieser Mann wusste von der Seide. Von der Warnung. Vielleicht sogar von den Gestalten vom Hafen.
Sie nahm die Münze vom Tresen und ließ sie zwischen ihren Klauen kreisen. „Dann hast du Glück“, sagte sie leichthin. „Vielleicht habe ich genau das, wonach du suchst.“
Sie drehte sich um und griff unter den Tresen, ihre Finger berührten den Rand der Seide. Doch bevor sie die Seide herausziehen konnte, beugte sich der Edelmann vor, seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Sie beobachten Sie bereits, Kaufmann.“
Reis Griff wurde fester.
Rei folgte dem Adligen durch gewundene Gassen. Der Geruch von Tinte und altem Pergament lag in der kühlen Morgenluft. Das Summen des Marktes verklang hinter ihnen und wurde durch das ferne Läuten der Tempelglocken ersetzt. Sie blieben an einer unmarkierten Tür stehen, halb versteckt zwischen einer lackierten Apotheke und einem verfallenen Badehaus.
Der Adlige klopfte zweimal, dann noch einmal. Die Tür öffnete sich quietschend und gab den Blick auf einen schwach beleuchteten Raum frei, der mit Regalen voller Schriftrollen und Artefakte gesäumt war.
Eine gebückte, alte Katze spähte über den Rand einer runden Brille zu ihnen herüber. „Sie bringen Ärger vor meine Tür“, murmelte sie und schlurfte hinein. „Kommen Sie schnell, bevor Sie gesehen werden.“
Rei zögerte, trat dann aber vor. Auf dem Holztisch lagen Karten ausgerollt, mit verblasster Tinte und kryptischen Symbolen beschriftet. Ihr Blick blieb an einer hängen – sie entsprach fast dem in die Seide eingewebten Muster.
Die alte Katze seufzte. „Du weißt nicht, in was du verstrickt bist, oder?“
Rei verschränkte die Arme. „Ich habe vor, es herauszufinden.“
Der Edle tauschte einen Blick mit dem Ältesten. „Dann lasst uns beginnen.“
Der Älteste breitete die Karte vor ihnen aus und fuhr mit einer Klaue über die feinen Linien. „Diese Karte markiert den Standort des verlorenen Gewölbes der Kaiserin“, murmelte er. „Eine Schatzkammer, die seit Generationen verborgen war, versiegelt hinter Seide und Schatten.“
Reis Ohren zuckten. „Und was genau ist drin?“
Der Adlige atmete aus. „Etwas mehr als Gold. Ein Relikt großer Macht. Eines, für das manche töten würden.“
Ein Klopfen ließ die Tür erzittern. Die Augen des Ältesten verfinsterten sich. „Es scheint, als ob uns die Zeit davongelaufen ist.“
Rei drehte sich um, ihr Herz klopfte wie wild. Das Spiel aus Seide und Schatten hatte gerade seinen nächsten Schritt erreicht.
Fortgesetzt werden.......