
Die Katze, die den Wind malte
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Die Katze, die den Wind malte
Hoch oben auf den Klippen von Ume-no-Mori, wo die Kirschblüten nie aufhörten, sanft zu tanzen, lebte ein einsamer Kater namens Shin. Er war ein dreifarbiger Kater mit Fell wie verstreute Tintenstriche und war im ganzen Land nicht als Krieger oder Gelehrter bekannt, sondern als Künstler – als jemand, dessen Pinselstriche das Unsichtbare festhalten konnten.
Shin lebte in einem bescheidenen Holzhaus zwischen uralten Kiefern. Seine Wände waren mit Reispapierrollen bespannt, die die Welt zeigten, wie er sie sah – nicht nur wie sie war, sondern wie sie sein könnte. Er trug einen fließenden Kimono aus weichem Indigo, bestickt mit goldenen Fäden, die wirbelnde Windböen nachahmten, eine Hommage an das Erbe seiner Familie. Seine Pinselstriche, zart wie ein Flüstern, bewegten sich über die Seite wie der Wind selbst. Und mit der Zeit, so hieß es, kam der Wind, um zuzuhören.
Eines Abends, als die untergehende Sonne den Himmel in Zinnoberrot und Gold tauchte, saß Shin vor einer leeren Leinwand. Die Brise trug den Duft von Pflaumenblüten durch seine offene Tür und ließ die Papiere auf seinem Schreibtisch wackeln. Doch etwas stimmte nicht. Der Wind, der ihm einst Geheimnisse zugeflüstert und seine gemalten Vögel in den Himmel getragen hatte, war verstummt.
Ein Klopfen an der Tür durchbrach die Stille. Auf der Schwelle stand eine alte Schildpattkatze, eingehüllt in einen verwitterten Mantel. Ihre Augen, in der Farbe von Gewitterwolken, musterten ihn mit stiller Eindringlichkeit.
„Meister Shin“, murmelte sie und verbeugte sich tief. „Der Wind hat seinen Weg verloren.“
Shin legte seinen Pinsel hin. „Was meinst du?“
Die alte Katze trat vor und zog eine zerrissene Schriftrolle aus ihrem Ärmel. „Generationenlang sind die Winde von Ume-no-Mori den Schlägen deiner Familie gefolgt. Doch jetzt sind sie verschwunden. Das Tal wird still, die Flüsse verlangsamen sich und bald werden sogar die Blüten aufhören zu fallen.“
Shin entrollte die Schriftrolle. Darauf befand sich ein altes Gemälde eines großen Sturms – Wolken, die sich wie Drachen drehten, Wind, der durch unsichtbare Berge heulte. Seine Vorfahren hatten einst die Stürme ins Leben gerufen und das Gleichgewicht zwischen Ruhe und Chaos geschaffen. Doch jetzt begann die Tinte zu verblassen.
„Du musst den Wind zurück in die Welt malen“, drängte die alte Katze. „Bevor die Stille alles nimmt.“
Shin zögerte. Er hatte Vögel gemalt, die durch die Lüfte segelten, Wellen, die brachen, sogar das Lachen von Kindern, die von einer Frühlingsbrise erfasst wurden. Aber den Wind selbst heraufbeschwören?
Er tauchte seinen Pinsel in die Tinte, seine Hände trotz der Schwere der Aufgabe ruhig. Mit vorsichtigen, gezielten Strichen malte er den ersten Windstoß – einen sanften Wirbel, der den Saum des Umhangs der alten Katze anhob. Dann noch einen, einen weiten Bogen, der lose Blütenblätter von seinem Schreibtisch fallen ließ.
Draußen regten sich die Bäume.
Mit jedem Strich kam der Wind zurück, zuerst als Flüstern, dann als Hauch, dann als Lied. Das Haus knarrte, der Wald seufzte und Gelächter hallte von den fernen Hügeln wider, wo die Kinder spielten. Shin malte bis spät in die Nacht, bis schließlich der große Sturm von der Rolle wieder vollständig war und in wirbelnden Wolken und tosenden Winden auf dem Papier tanzte.
Als der letzte Strich trocknete, drang ein Windstoß durch die Türen und trug den Geruch von Regen und entferntem Donnern mit sich. Die alte Katze lächelte und ihre Augen glänzten. „Der Wind erinnert sich.“
Shin senkte den Kopf und spürte, wie die Brise sein Fell hob. „Dann ist meine Arbeit getan.“
Draußen wirbelten die Blütenblätter erneut, vom Wind, den er gemalt hatte, zurück in die Welt getragen.
Shin sah einen Moment zu, drehte sich dann um, trat ein und schloss die Tür, um die kühle Abendluft zu vermeiden. Er legte seinen Pinsel beiseite und ging zum Kamin, wo eine Kanne Tee neben einem kleinen Tablett mit Reiskuchen stand. Der Raum, erwärmt vom Schein des Kerzenlichts, war erfüllt vom leisen Rascheln von Papier und dem schwachen Geruch von Tinte. Als er sich auf einem Kissen niederließ und eine dampfende Tasse zwischen seinen Pfoten hielt, atmete er langsam aus. Der Wind war zurückgekehrt, das Tal würde wieder singen, und für heute Abend waren Einsamkeit und heißer Tee mehr als genug.